Jiddu Krishnamurti „Schöpferische Freiheit“
Was ist das Selbst
Wissen wir eigentlich, was wir mit „Selbst“ meinen? Ich meine damit die Vorstellungen, die Erinnerungen, die Schlussfolgerungen, die Erfahrungen, die verschiedenen bestimmten und unbestimmten Absichten, die bewusste Anstrengung, etwas zu sein oder nicht zu sein, die im Unbewussten gespeicherten Erinnerungen, die Abstammung, die Gruppe, das Individuum, den Clan und alles zusammen, ob es nun nach außen ins Handeln projiziert wird oder nach innen als Eigenschaft oder Tugend. All diese Bestrebungen sind das Selbst. Und es schließt die Konkurrenz ein, den Wunsch, zu sein. All das zusammen, dieser ganze Prozess, macht das Selbst aus, und wir wissen eigentlich, wenn wir mit ihm konfrontiert sind, dass es eine üble Sache ist. Ich verwende bewusst das Wort „übel“, weil das Selbst spaltet und trennt; das Selbst schottet sich ab; seine Aktivitäten, wie edel sich sich auch ausnehmen, sind trennend und isolierend. Wir wissen das alles. Und wir kennen auch diese außergewöhnlichen Momente, in denen das Selbst abwesend ist, den Zustand in dem es keine Anstrengung, kein Bemühen gibt und der sich einstellt, wenn Liebe da ist. Mir scheint wichtig, dass wir verstehen, auf welche Weise Erfahrung das Selbst stärkt. Wenn es uns ernst damit ist, sollten wir dieses Problem der Erfahrung zu verstehen suchen. Was meinen wir also mit „Erfahrung“? Wir machen ständig Erfahrungen, haben Eindrücke; wir interpretieren sie und reagieren oder handeln auf Grund dieser Eindrücke; wir sind berechnend, schlau und so weiter. Es ist ein ständiges Wechselspiel zwischen dem, was objektiv gesehen wird, und unserer Reaktion darauf sowie ein Wechselspiel zwischen dem bewussten Denken und den unbewussten Erinnerungen.
Entsprechend meinen Erinnerungen reagiere ich auf alles, was ich sehe, auf alles was ich fühle. Und bei diesem Prozess des Reagierens auf das, was ich sehen, fühle, weiß oder glaube, mache ich Erfahrungen. Die Reaktion oder Antwort auf etwas, das man sieht, ist Erfahrung. Wenn ich Sie sehe, reagiere ich, und das Benennen der Reaktion ist die Erfahrung. Wenn ich diese Reaktion nicht benenne, ist es keine Erfahrung. Beobachten Sie Ihre eigenen Reaktionen und was um Sie herum vorgeht. Es gibt keine Erfahrung, solange nicht gleichzeitig ein Benennen stattfindet. Wenn ich Sie nicht erkenne, wie kann ich dann die Erfahrung einer Begegnung mit Ihnen machen? Das klingt einfach und richtig. Ist es keine Tatsache? Das heißt, wie kann ich, wenn ich nicht auf Grund meiner Erinnerungen, meiner Konditionierung, meiner Vorurteile reagiere, wissen, dass ich eine Erfahrung gemacht habe?
Dann gibt es noch die Projektion verschiedener Wünsche. Ich will geschützt sein, will innere Sicherheit haben; oder ich wünsche mir einen Meister, einen Guru, einen Lehrer, einen Gott, und ich erfahre das, was ich mir vorgestellt habe. Das heißt, ich habe einen Wunsch projiziert, der eine Form angenommen hat, der ich einen Namen gegeben habe, und darauf reagiere ich. Es ist meine Projektion. Es ist meine Benennung. Dieser Wunsch, der mir eine Erfahrung beschert, lässt mich sagen: „Ich bin dem Meister begegnet“ oder „Ich bin dem Meister nicht begegnet“. Sie kennen diesen ganzen Vorgang des Benennens einer Erfahrung. Wünsche sind das, was Sie Erfahrungen nennen, nicht wahr?
Was geschieht, wenn ich mir innere Stille wünsche? Ich erkenne, dass es wichtig ist, einen stillen, ruhigen Geist zu haben, und zwar aus verschiedenen Gründen: weil es in den Upanishaden steht, weil es in religiösen Schriften steht, weil Heilige es gesagt haben und weil ich gelegentlich selbst spüre, wie gut es tut, still zu sein, denn mein Verstand plappert den ganzen Tag. Manchmal nehme ich wahr, wie gut, wie angenehm es sich anfühlt, wenn der Geist friedvoll und still ist. Der Wunsch ist also, Stille zu erfahren. Ich will einen stillen Geist haben, und so frage ich: „Wie kann ich dahin kommen“? Ich weiß, was in diesem oder jenem Buch über Meditation und die verschiedenen Formen der Übungspraxis steht. Also versuche ich, Stille durch Disziplin, durch Übung zu erfahren. Das Selbst, das „Ich“, hat sich daher in der Erfahrung der Stille eingerichtet.
Ich will verstehen, was Wahrheit ist; das ist mein Wunsch, meine Sehnsucht. Darauf folgt meine Projektion dessen, was ich als die Wahrheit betrachte, denn ich habe eine Menge darüber gelesen, ich habe viele Leute darüber sprechen hören, in religiösen Schriften ist sie beschrieben. All das will ich. Was geschieht dann? Dieses Wollen, dieser Wunsch wird projiziert, und ich mache eine Erfahrung, weil ich diesen projizierten Zustand wiedererkenne. Würde ich diesen Zustand nicht wiedererkennen, würde ich ihn nicht Wahrheit nennen. Ich erkenne ihn wieder und ich erfahre ihn, und diese Erfahrung stärkt das Selbst, das „Ich“, nicht wahr? Das Selbst verschanzt sich in der Erfahrung. Und dann sagen Sie: „Ich weiß“, Der Meister existiert“, „Es gibt einen Gott“ oder „Es gibt keinen Gott“. Sie behaupten, ein bestimmtes politisches System sei richtig und alle anderen nicht. Erfahrung stärkt also immer das „Ich“. Je mehr Sie in Ihrer Erfahrung verankert sind, desto mehr wird das Selbst gestärkt. Auf Grund dessen besitzen Sie eine gewisse Charakterstärke, eine Kraft des Wissens, des Glaubens, die Sie bei anderen Menschen zur Schau stellen, weil Sie wissen, dass die anderen nicht so klug sind wie Sie, und weil Sie eine Begabung zum Schreiben oder Sprechen haben und schlau sind. Denn das Selbst ist immer noch aktiv, also sind Ihre Glaubenssätze, Ihre Meister, Ihre Kasten, Ihr Wirtschaftssystem alle Teil des Prozesses der Abschottung und führen dadurch zu Zwietracht. Sie müssen, wenn es Ihnen wirklich ernst ist, dieses innere Zentrum vollständig auflösen und es nicht rechtfertigen. Deshalb müssen wir verstehen, wie Erfahrungen zustande kommen.
Ist es dem Geist, dem Selbst möglich, nicht zu projizieren, nicht zu wünschen, nicht zu erfahren? Wir sehen, dass alle Erfahrungen des Selbst verneinend, zerstörerisch sind, und doch bezeichnen wir sie als positive Aktivitäten, nicht wahr? Wir bezeichnen das als positiven Lebensstil. Die Auflösung dieses ganzen Prozesses, dieser ganzen Ich-Aktivität, ist in Ihren Augen eine Verneinung. Haben Sie damit recht? Können wir, Sie und ich, als Individuen bis zur Wurzel des Ganzen vordringen und die Funktionsweise des Selbst verstehen? Was führt nun zur Auflösung des Selbst? Religiöse und andere Gruppen haben eine Identifikationsmöglichkei8t angeboten. Sie sagen: „Identifiziere dich mit etwas Größerem, und das Selbst verschwindet:“ Aber Identifikation ist zweifellos immer noch die Aktivität des Selbst, das Größere ist einfach die Projektion des „Ich“, das ich erfahre, und das deshalb das „Ich“ stärkt. All die verschiedenen Disziplinen, Glaubens- und Wissenssysteme stärken zweifellos nur das Selbst. Können wir etwas finden, das das Selbst auflöst? Oder ist das eine falsche Frage? Das ist es doch, was wir im Grunde wollen. Wir wollen etwas finden, das das „Ich“ auflösen kann, nicht wahr? Wir glauben, dass es dafür verschiedene Mittel und Wege gibt, nämlich Identifikation, Glauben und so weiter, aber alles funktionieren auf der selben Ebene. Keines ist dem anderen überlegen, weil sie alle gleichermaßen das Selbst, das „Ich“ stärken. Kann ich also das „Ich“ erkennen, wo immer es aktiv ist, und seiner destruktiven Kräfte und Energien gewahr sein? Wie ich es auch nennen, es ist eine trennende Kraft, eine Zerstörerische Kraft, und ich will einen Weg finden, es aufzulösen. Sie haben sich das gewiss schon gefragt: „Ich sehe die ganze Zeit, wie das“Ich“ funktioniert und immer Anspannung, Angst, Frustration, Verzweiflung, Leiden mit sich bringt, nicht nur für mich selbst, sondern auch für alle anderen. Kann dieses Selbst aufgelöst werden – nicht nur teilweise, sondern ganz und gar?“ Können wir bis zu seiner Wurzel vordringen und sie zerstören? Das ist die einzige Möglichkeit, wirklich zu leben, nicht wahr? Ich will nicht teilweise intelligent sein, sondern auf eine ganzheitliche Weise. Die meisten von uns sind in bestimmten Bereichen intelligent, Sie wahrscheinlich in einem Bereich, ich in einem anderen. Einige von Ihnen sind bei ihren geschäftlichen Transaktionen intelligent, andere bei ihrer Büroarbeit und so weiter. Die Menschen sind auf unterschiedliche Weise intelligent, aber wir sind nicht ganzheitlich intelligent. Ganzheitlich intelligent zu sein bedeutet, ohne das Selbst zu sein. Ist das möglich?
Ist es also möglich, dass das Selbst vollständig abwesend ist, und zwar jetzt? Sie wissen, dass es möglich ist. Was sind die notwendigen Voraussetzungen, was ist dazu erforderlich? Welcher Faktor bewirkt das? Kann ich ihn entdecken? Wenn ich diese Frage stelle: „Kann ich ihn entdecken?“, bin ich zweifellos überzeugt, dass es möglich ist. Also habe bereits eine Erfahrung hervorgerufen, die das Selbst stärken wird, nicht wahr? Das Selbst zu verstehen erfordert große Intelligenz, große Achtsamkeit, Wachheit, ein unaufhörliches Beobachten, so dass es einem nicht entgleitet. Ich, dem es sehr ernst damit ist, will das Selbst auflösen. Wenn ich das sage, weiß ich, dass es möglich ist, das Selbst aufzulösen. In dem Moment, in dem ich sage: „Ich will das auflösen“, ist immer noch das erfahrende Selbst da, und so mit wird das Selbst gestärkt. Wie ist es dem Selbst also möglich, keine Erfahrung zu machen? Man kann sehen, dass der schöpferische Zustand keinesfalls die Erfahrung des Selbst ist. Schöpfung ist, wenn das Selbst nicht da ist, weil Schöpfung nichts mit dem Intellekt, nichts mit dem Denken zu tun hat, keine eigene Projektion ist, sie ist etwas das über alles Erfahren hinausgeht. Ist es dem Geist also möglich, ganz still zu sein, in einem Zustand des Nichtwissens oder Nicht-Erfahrens, einem Zustand, in dem Schöpfung möglich ist, wenn also das Selbst nicht da ist, wenn das Selbst abwesend ist? Das ist das Problem, nicht wahr? Jede Aktivität des Geistes, ob positiv oder negativ, ist eine Erfahrung, die das „Ich“ stärkt. Ist es dem Geist möglich, nichts wiederzuerkennen? Das ist nur möglich, wenn absolute Stille herrscht, aber nicht die Stille, die eine Erfahrung des Selbst ist und die daher das Selbst stärkt.
Gibt es etwas außerhalb des Selbst, das das Selbst anschaut und es auflöst? Gibt es eine spirituelle Wesenheit, die das Selbst übersteigt und zerstört, es beseitigt? Wir glauben, dass es das gibt, nicht wahr? Die meisten religiösen Menschen glauben, dass es eine solche Wesenheit gibt. Der Materialist sagt: „Es ist unmöglich, das Selbst zu zerstören, es kann nur konditioniert und begrenzt werden – politisch, ökonomisch und sozial. Wir können es in einem fest umrissenen Muster halten, wir können es brechen, und deshalb kann es dazu gebracht werden, ein anständiges Leben, ein moralisches Leben zu führen und nichts und niemandem in die Quere zu kommen, sondern dem gesellschaftlich vorgegebenen Muster zu folgen und wie eine Maschine zu funktionieren“. Das wissen wir. Dann gibt es andere Menschen, die so genannten Religiösen – sie sind nicht wirklich religiös, auch wenn wir sie so nennen -, die sagen: „Grundsätzlich existiert eine solche Wesenheit. Wenn wir mit ihr in Kontakt kommen können, wird sie das Selbst auflösen.“
Gibt es ein solches Element, das in der Lage ist, das Selbst aufzulösen? Bitte sehen Sie, was wir hier tun. Wir drängen das Selbst in eine Ecke. Wenn Sie zulassen, dass Sie in die Ecke gedrängt werden, werden Sie sehen, was geschieht. Wir möchten gerne, dass es etwas Zeitloses gibt, das jenseits des Selbst existiert und das, so hoffen wir, kommen und das Selbst zerstören wird – und das wir Gott nennen. Gibt es also so etwas, das sich der Geist vorstellen kann? Vielleicht gibt es das, vielleicht auch nicht, darum geht es nicht. Aber wenn der Geist nach einem zeitlosen spirituellen Zustand sucht, der aktiv wird, um das Selbst zu zerstören – ist das nicht auch wieder eine Erfahrung, die das „Ich“ stärkt? Ist das nicht genau das, was geschieht, wenn Sie glauben? Wenn Sie glauben, dass es die Wahrheit, Gott, jenen zeitlosen Zustand, die Unsterblichkeit gibt – dient das nicht dazu, das Selbst zu stärken? Das Selbst hat ja das projiziert, was Ihrer Überzeugung nach kommen und das Selbst zerstören wird. Da Sie nun diese Vorstellung von Kontinuität in einen zeitlosen Zustand als spirituelle Wesenheit projiziert haben, machen Sie eine Erfahrung, und eine solche Erfahrung stärkt nur das Selbst. Was haben Sie also getan? Sie haben das Selbst nicht wirklich zerstört, sondern ihm nur einen anderen Namen gegeben, eine andere Qualität: das Selbst ist immer noch da, weil Sie es erfahren haben. So ist also unser Handeln von Anfang bis Ende dasselbe, wir denken nur, dass es sich weiterentwickelt, wächst, immer schöner wird, aber wenn Sie es innerlich beobachten, ist es dasselbe Handeln, dasselbe „Ich“, das auf unterschiedlichen Ebenen, unter unterschiedlichen Namen und Bezeichnungen operiert.
Wenn Sie den gesamten Vorgang sehen, die schlauen, großartigen Erfindungen, die Intelligenz des Selbst, wie es sich hinter der Identifikation, der Tugend, der Erfahrung, dem Glauben, dem Wissen verbirgt, wenn Sie sehen, dass sich der Geist im Kreis dreht, in einem Käfig, den er selbst geschaffen hat, was geschieht dann? Wenn Sie dessen gewahr sind, wenn Ihnen das voll bewusst ist, sind sie dann nicht außergewöhnlich still – nicht durch irgendeinen äußeren Zwang, nicht auf Grund einer Belohnung, nicht auf Grund irgendeiner Angst? Wenn Sie erkennen,m dass jede Aktivität des Geistes nur auf die eine oder andere Art das Selbst stärkt, wenn Sie das beobachten, erkennen, wenn Sie den Geist in Aktion vollkommen bewusst wahrnehmen, wenn Sie an diesen Punkt kommen – nicht ideologisch, mit Worten, nicht durch projiziertes Erfahren, sondern wenn Sie tatsächlich in diesem Zustand sind -, dann werden Sie sehen, das dem Geist, nun absolut still, keinerlei Schöpferkraft innewohnt. Was immer der Geist erschafft, befindet sich im Umkreis, im Bereich des Selbst. Wenn der Geist nichts erschafft5, ist Schöpfung da, die kein Vorgang ist, der wiedererkannt werden kann. Wirklichkeit, Wahrheit lässt sich nicht wiedererkennen. Damit sich Wahrheit offenbaren kann, müssen Glauben, Wissen Erfahren, das Streben nach Rechtschaffenheit – muss all das verschwinden. Der tugendhafte Mensch, dem bewusst ist, dass er nach Tugend strebt, kann nie die Wirklichkeit entdecken. Er mag ein sehr anständiger Mensch sein, aber das ist etwas ganz anderes als ein Mensch der Wahrheit, ein Mensch, der versteht. Für einen Menschen der Wahrheit hat sich die Wahrheit offenbart. Ein tugendhafter Mensch ist ein rechtschaffener Mensch, und ein rechtschaffener Mensch kann nie verstehen, was Wahrheit ist, denn für ihn ist Rechtschaffenheit die Verkleidung des Selbst, die Bestärkung des Selbst, weil er nach Tugendhaftigkeit, nach Rechtschaffenheit strebt. Wenn er sagt: „Ich muss frei von Habgier sein“, stärkt seine Erfahrung des Nicht-Habgierig-Seins nur das Selbst. Deshalb ist es so wichtig, arm zu sein, und zwar nicht nur an den Dingen der Welt, sondern auch arm an Glauben und an Wissen. Ein Mensch mit weltlichen Reichtümern oder einer, der reich an Wissen und Glauben ist,wird nie etwas anderes als Dunkelheit kennen und das Zentrum allen Elends und Unglücks sein. Aber wenn Sie und ich, wenn wir als Einzelne die ganze Arbeitsweise des Selbst durchschauen können, dann werden wir wissen, was Liebe ist. Und ich versichere Ihnen, dass das die einzige Umgestaltung ist, die möglicherweise die Welt verändern kann. Liebe kommt nicht aus dem Selbst. Das Selbst kann keine Liebe kennen. Sie sagen: „Ich liebe“, aber dann ist, während Sie das sagen, während Sie das erfahren, gar keine Liebe da. Aber wenn Sie die Liebe kennen, ist das Selbst abwesend. Wenn Liebe da ist, existiert das Selbst nicht.
Jiddu Krishnamurti . ^^O^^
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